Arbeitsprozess II

„Die ersten Striche sind dem Zufall überlassen“

Alle wichtigen Utensilien, Farben, Pinsel und Pappstückchen, Papier, Karton und eine Schere sind im Halbkreis aufgebaut. Sie stehen oder liegen griffbereit, nur eine Armlänge weit von ihr entfernt. Die Künstlerin kniet auf dem Fußboden. Manchmal hockt sie sich auch hin. Vor ihr liegt ihr Gemälde ausgestreckt wie ein Patient auf einem Operationstisch. Das Bild soll heute weiter bearbeitet werden. Es ist noch nicht fertig, hat sie für sich entschieden. (...)

 

Rundherum, wild im Raum verstreut, liegen die Reste kreativer Sitzungen: Unzählige Papierschnipsel wie nach einer Bastelstunde, ausgeschnittene Pappstücke und natürlich Farbflecken, die als bunte Spritzer und Kleckse nur notdürftig von ein paar Stoffresten aufgefangen worden sind. (...) Die ansonsten vorherrschende Ordnung im Atelier ist durch solche Inseln kreativen Chaos durchbrochen.

 

Die kleine Staffelei wird nur zur Kontrolle von Bildern genutzt. (...) Sie dient dazu, Abstand zum Bild zu gewinnen, um etwaige Fehler, Brüche und Störungen zu entdecken. Zugleich hilft der gegenüberliegende Spiegel, im Rücken der Künstlerin, die Distanz noch einmal zu verdoppeln und auch die Verfremdung eines gespiegelten Bildes zu nutzen. (...)

 

Mit einem Messerchen kratzt sie einen Teil der Farbe von dem Malkarton herunter, die sich bereits zu einer kleinen Hügellandschaft aufgeworfen hatte. Es bleiben nur die Teile übrig, die dem kritischen Blick standgehalten haben.

 

Schrittweise baut sich bei diesem Prozess das neue Bild auf. Das Prinzip lautet: Annehmen oder Verwerfen. Malen ist für die Künstlerin ein mitunter anstrengender und zeitaufwendiger Prozess. Der soll auch nicht übertüncht werden. Jedes Bild hat seine eigene Ordnung und Gesetzmäßigkeit. Die gilt es herauszufinden, nachdem der Zufall die ersten Schritte getan und eine imaginären Weg gewiesen hat.

 

Dr. Jörg Bockow

Der Text ist dem Katalog entnommen, der zur Ausstellung 2013/14 in der Galerie RF Linke erschienen ist.


Die Texte von Dr. Jörg Bockow sind hier mit seiner freundlichen Genehmigung abgedruckt.